Verstärkung des präventiven Menschenrechtsschutzes durch Anwendung des Istanbul-Protokolls in allen österreichischen Krankenanstalten

14. Dezember 2015

Nach diesem Vorfall wurden Straf- und Verwaltungsstrafverfahren gegen die Anzeigerin erstattet, ohne dass aber gleichzeitig auch deren Misshandlungsvorwürfen effizient nachgegangen wurde. Ebenso wenig wurden die Polizisten dazu befragt, Zeugen gesucht oder medizinische Beweise zur Unterstützung der Angaben von Frau W. gesichert. Diese beklagte in weiterer Folge zudem, dass sie als Opfer eines Polizeiübergriffes auch vom Krankenhaus – das sie unmittelbar nach der Entlassung aus der Polizeigewahrsame aufsuchte – nicht jene Unterstützung erhielt, die sie sich als potenzielles Gewaltopfer erwartet hatte.

Ihrer Schilderung wurde nicht geglaubt – im Erstversorgungsbericht findet sich folgender Eintrag:

"Pat. wurde von der Polizei festgenommen nach tätlichem Angriff, bei Anlegen der Hand- und Fußfesseln wurde die Pat. an den Knöcheln und Handgelenken verletzt. Fremdverschulden fraglich/Unfallart: Freizeitunfall; ambulanter Behandlungsbeginn 1.1.2015/09:59."

Auch den persönlichen Umgang und die Befundung empfand Frau W. als abweisend – obwohl sie unter dem Eindruck der Ereignisse der vergangenen Nacht noch geschockt und psychisch belastet war und unter Schmerzen litt. Als sie im Beisein ihrer inzwischen herbeigeeilten Freundin darauf bestanden haben soll, den Eintrag betreffend die Größe des vorgefundenen Hämatoms zu ändern, da dieses nicht vermessen worden sei und breitflächiger als angegeben wäre, soll sie bloß auf die getätigte Fotodokumentation verwiesen worden sein.

 

Zwingende Verpflichtung zum Schutz potentieller Opfer

Die Volksanwaltschaft hat entsprechend einem Vorschlag der Kommission 4 den Sachverhalt gegenüber dem Bundesministerium für Gesundheit anonymisiert offengelegt und deutlich gemacht, dass Krankenanstalten bzw. den dort tätigen Ärztinnen und Ärzten eine entscheidende Rolle bei der Aufklärung von behaupteten Polizeiübergriffen zukommt.

Die Glaubwürdigkeit des Verbots von Folter und anderen Misshandlungsformen leidet mit jedem Fall, in dem Amtspersonen, die für solche Delikte verantwortlich sind, für ihre Handlungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn Informationen zutage treten, die auf Misshandlung hindeuten und darauf keine sofortige und wirksame Reaktion erfolgt, entsteht verständlicherweise der Eindruck, dass Organwalter ohnehin nie bestraft werden würden. Alle Anstrengungen, Menschenrechtsprinzipien durch strikte Einstellungspolitik und berufliche Aus- und Fortbildung zu fördern, werden dadurch untergraben und tragen zum Verfall der Werte bei, welche die Fundamente einer demokratischen Gesellschaft bilden.

Art. 12 und 13 der UN-Konvention gegen Folter (CAT) sowie Art. 3 EMRK verpflichten alle Mitgliedstaaten dazu, jede glaubwürdig behauptete oder vermutete Verletzung des Verbots der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch öffentlich Bedienstete in möglichst effizienter und schnellster Weise von einer unabhängigen unparteiischen Instanz untersuchen zu lassen. Aus Art. 3 EMRK, Art. 13 CAT und dem CBT-Standards ergibt sich eindeutig, dass eine unabhängige Untersuchung möglicher im staatlichen Gewahrsam erlittener Misshandlungen geeignet sein muss, zu einer Entscheidung darüber zu führen, ob Gewalt oder andere angewandte Methoden unter den jeweiligen Umständen gerechtfertigt war oder nicht. Die staatliche Verpflichtung zu einer gründlichen Untersuchung richtet sich dabei nicht auf ein bestimmtes Ergebnis, sondern auf die eingesetzten Mittel. Sie erfordert, dass alle vernünftigen und möglichen Schritte unternommen werden, um Beweise über den Vorfall zu sichern, unter anderem die vorgeblichen Opfer, Verdächtige und Augenzeugen zu identifizieren und zu vernehmen und Misshandlungsspuren frühzeitig und umfassend zu sichern.

 

Bedeutung des Istanbul-Protokolls für Ärztinnen und Ärzte

Das 2001 erstmals veröffentlichte Istanbul-Protokoll (Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Strafe) ist der Standard der Vereinten Nationen für die Begutachtung von Personen, die den Vorwurf erheben, gefoltert oder misshandelt worden zu sein, für die Untersuchung von Fällen mutmaßlicher Folter für die Meldung solcher Erkenntnisse an die Justiz und anderer Ermittlungsbehörden. Es ergeben sich daraus Leitlinien und Hinweise für Ärztinnen und Ärzte, Anwältinnen und Anwälte, sowie Psychologinnen und Psychologen, wie sie Folter und Misshandlungsvorwürfen effektiv nachgehen, Folgen dokumentieren und ordnungsgemäß sichern können. Von den 6 Kapiteln und 4 Anhängen, aus denen dieses Handbuch besteht, wenden sich die zwei umfangreichsten Kapitel der körperlichen und psychologischen Untersuchung sowie drei Anhänge speziell an Ärztinnen und Ärzte. Allerdings ist diesen die Existenz des Istanbul-Protokolls vielfach nicht bekannt.

 

BMG folgt Empfehlung

Das Bundesministerium für Gesundheit hat die Empfehlung der Volksanwaltschaft im September 2015 zum Anlass genommen, sämtliche Krankenanstaltenträger Österreichs über das Istanbul-Protokoll zu informieren sowie diese ersucht, für die Sicherstellung der Implementierung des Istanbul-Protokolls Sorge zu tragen.