Interview mit Volksanwalt Dr. Günther Kräuter: Medikation in Alten- und Pflegeheimen

21. Mai 2015

Warum engagiert sich die Volksanwaltschaft in dieser Frage so kompromisslos?

Kräuter: Ziel des „nationalen Präventionsmechanismus“ ist es, an Orten der Freiheitsentziehung die Achtung von Menschenrechten und Menschenwürde sicherzustellen. Im besonders sensiblen Bereich der Medikamentenverabreichung an hochbetagte Menschen kommt es laut Kommissionserhebungen und individuellen Beschwerden zu häufiger Verabreichung von Schlaf- und Beruhigungsmitteln ohne zwingende medizinische Notwendigkeit.

Gerade pflegebedürftige, alte Menschen, die bereits gesundheitlich beeinträchtigt sind, nehmen eine Vielzahl von Medikamenten ein, die oft starke Nebenwirkungen haben oder in unerwünschte Interaktion treten.

Welche konkreten Auswirkungen kann das in Heimen mit sich bringen, wie kann der Schutz der Patienten sichergestellt werden?

Kräuter: Delir- und Sturzereignisse sind in vielen Fällen medikamenteninduziert oder werden durch verschiedene Wirkstoffe begünstigt. Arzneimittel können sich gegenseitig in ihrer Wirkung unerwünscht verstärken, die Lebensqualität deutlich herabsetzen und sogar lebensbedrohend werden. Dort, wo der Einsatz von psychotropen Medikamenten geboten ist, sollten besondere Vorsichtsmaßnahmen gelten.

Die Indikationsstellung sollte mit großer Sorgfalt erfolgen, die Verschreibung sich an einem klar definierten inhaltlichen Ziel ausrichten und der zeitliche Rahmen abgesteckt sein. Mit der Patientin oder dem Patienten müssen die Wirkungen und möglichen Nebenwirkungen eingehend besprochen werden. Es gilt hier die oft zitierte Regel: "So wenig wie möglich, so viel wie nötig".

Seitens der Betreiber von Pflegeeinrichtungen wird von „absoluten Schwachsinn“, „Angriffen gegen Pflegepersonal“ und einer „diskreditierten Branche“ gewettert, was entgegnen sie der harten Kritik?

Kräuter: Selbstverständlich stellen wir weder einzelne Einrichtungen, Bundesländer oder Berufsgruppen an den Pranger. Der Volksanwaltschaft geht es um strukturelle Verbesserungen eines in Wahrheit schon seit vielen Jahren immer wieder diskutierten Problems der Arzneimitteltherapiesicherheit. Mit zunehmendem Lebensalter werden Bewohnerinnen und Bewohner immer anfälliger für Erkrankungen. Hochwertige Therapie und Pflege sind daher unerlässlich.

Die Problematik der Polypharmazie, aber auch die anzutreffende Verschreibung von Arzneimittel, die für ältere Personen potentiell schädlich sind sowie medikamentöse Freiheitsbeschränkungen ohne Prüfung von Alternativen sind Fehlleistungen im Bereich der Gesundheitsvorsorge, denen man sich stellen muss. Die Kritik der Wirtschaftskammer oder von Unternehmern beeindruckt mich dabei nicht, im Gegenteil, dadurch werden wirtschaftliche Interessen transparent.

In der Diskussion wird von Fachleuten als eine Ursache der „katastrophale Personalschlüssel in Pflegeheimen“ beklagt. Daneben zeigt sich aus meiner Sicht aber auch, dass die Weiterbildung über die Wirkungen und Risiken geriatrischer Pharmakotherapie ebenso verbessert werden müsste wie die Kommunikation zwischen Ärzten, Heimleitungen, Pflegepersonal und Apotheken.

Welche konkreten Vorschläge kommen nun von der Volksanwaltschaft, um die Situation in Pflege- und Altenheimen zu verbessern?

Kräuter: Vorerst einmal ein Appell an alle Einrichtungen, das Thema nicht empört vom Tisch zu wischen und bloß auf die Alleinzuständigkeit der verschreibenden Ärzte zu verweisen. Ziel muss es sein, den Medikationsprozess für ältere, multimorbide und pflegebedürftige Bewohnerinnen und Bewohner zu optimieren.

Ein Pilotprojekt in Bad Gastein hat es im Zusammenwirken von Pflegepersonal, Ärzten und Apotheke geschafft, bei 40 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner die Verordnung von Schlaf- und Beruhigungsmitteln zu verändern, bei sieben Prozent sogar gänzlich abzusetzen.

Weiters unterstützen wir die beabsichtigte Gesetzesvorlage des Gesundheitsministeriums, die behandelnde Ärzte dazu verpflichten soll, Diagnosen auf Grund derer Medikamente verabreicht werden, nicht unter Berufung auf die ärztliche Schweigepflicht der Heimleitung und dem Pflegepersonal vorzuenthalten. Geriatrische Kompetenz beinhaltet mehr als fundiertes pharmazeutisches Fachwissen.

Vor dem Hintergrund des hohen Alters und der schwerwiegenden kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner ist eine Verzögerung von Immobilität und Bettlägerigkeit bzw. fähigkeitsorientierte Aktivierung ein Betreuungserfolg, den man allein medikamentös nicht erzielen kann.

Den Expertenkommissionen der Volksanwaltschaft wird in nächster Zeit bei ihren unangemeldeten Besuchen in Alten- und Pflegeheimen vermutlich in nächster Zeit ein raueres Lüfterl entgegenwehen. Einerseits sollte ja ein möglichst konstruktives Klima der Zusammenarbeit gefördert werden, andererseits fühlen sich viele Einrichtungen ungerecht kritisiert, wie geht das zusammen?

Kräuter: Gerade wenn es um den Schutz hochbetagter Menschen geht, um Menschenrechte und Menschenwürde beispielsweise demenzerkrankter Heimbewohnerinnen und Heimbewohner, darf es für die Volksanwaltschaft keine Kompromisse geben. Die enorme gesellschaftspolitische Verantwortung unseres Gesetzesauftrages bringt naturgemäß auch Konflikte mit sich.

Ich bin überzeugt, dass die Frage der Medikamentenverordnung und der Missbrauch dieser subtilen Freiheitsbeschränkung eine absolut zentrale Herausforderung unserer Arbeit darstellt.

Sehen sie durch die mediale Resonanz zu den Feststellungen und Empfehlungen zu Alten- und Pflegeheimen im Bericht der Volksanwaltschaft positive Effekte?

Kräuter: Dieser Weckruf an die Verantwortlichen war absolut notwendig. Mit Sicherheit haben sich zahlreiche Dienstbesprechungen in Pflegeheimen aktuell mit dem Thema beschäftigt, verschreibende Ärzte werden so manche Medikation überdenken und – offenbar auch nicht ganz zufällig – eine Diskussion über die Wertschätzung des Pflegeberufes ist in Gang gekommen.

Auch Patienten werden ihr Recht, Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen, stärker wahrnehmen. Es gibt zweifellos – wie auch im Bericht zum Ausdruck kommt - auch Forschungsbedarf in Bezug auf die Arzneimittelsicherheit für Geriatriepatienten. Mir ist wichtig, dass wir auch der Politik signalisiert haben, dass mehr und in manchen Bereichen besser ausgebildetes Personal zur Betreuung hochbetagter Menschen erforderlich sein wird.

Vielen Dank für das Gespräch.


Auszüge aus aktuellen Reaktionen von Betroffenen bzw. Angehörigen:

Person 1 gab bezüglich einer Person in einer Einrichtung an: "Wenn ich sie um 18:00 Uhr besuche, ist sie schon fertig für die Nacht im Bett. Es sind alle Vorhänge geschlossen auch im Aufenthaltsraum. Das Personal sagt mir, sie wollte freiwillig ins Bett, weil doch niemand mehr auf ist. Am frühen Nachmittag steckte man ihr eine Tablette in den Mund, als ich fragte, was es war, sagte man mir, sie dürfen mir keine Auskunft geben."

Person 2 gab nach 34 Jahren in der Pflege an, „nicht mehr zuschauen zu wollen“, wie Leute in den Heimen behandelt worden sind und kann auch konkrete Angaben zu einigen Heimen machen. Sie legte dar, in einem Heim beobachtet zu haben, wie alte Menschen gekrümmt in ihren Betten liegen und nur sediert werden.

Laut Person 3 habe sich das Pflegepersonal im Altenheim in … (der Volksanwaltschaft bekannt)  nicht ausreichend um die Bewohner gekümmert, wahllos Medikamente ausgeteilt und während der Nacht keine Kontrollgänge gemacht, sodass es öfter zu Verletzungen durch Stürze gekommen sei.

Person 4 gab an, dass Personen in einer Einrichtung vor allem übers Wochenende sediert wurden. Vermutlich weil das Personal da noch knapper ist. Das gleiche passierte in der Nacht. Hier zeigten sich Unterschiede – je nachdem welcher Arzt oder welche Schwester Nachtdienst hatte.

Person 5: "Heimhelfer machen Pflegetätigkeiten für die sie nicht befugt sind. Sie haben die Pflegeverantwortung eines ganzen Stockes. Medikamente werden ohne ärztliche Verordnung verabreicht."

Person 6: "Mein Freund bekam Schlafmittel, ohne es zu wissen. Durch die Medikamente bekam er einen „Tunnelblick“ und war nicht mehr ansprechbar."