Erwachsenenschutz unterstützen statt entmündigen
Ein Artikel von Petra Tempfer.
Frau S. schreibt fehlerfreie Briefe und geht regelmäßig in den Seniorenklub kartenspielen. Dennoch ist sie besachwaltet. "Die Familie hat die Sachwalterschaft angeregt, weil sie manchmal verwirrt war und die Tochter Archäologin, also oft auf Grabungen ist", erzählt Volksanwältin Gertrude Brinek, die Beschwerdebriefe von Frau S. erhielt. Der Sachwalter brachte Frau S. umgehend ins Pflegeheim. Erst nach massiven Protesten der Tochter durfte sie wieder zurück nach Hause. Der Sachwalter habe aber schon wieder einen Platz in einem Pflegeheim beantragt, sagt Brinek zur "Wiener Zeitung". Und: "Es kann jeden treffen."
Mit dem neuen Erwachsenenschutzgesetz sollen Fälle wie dieser der Vergangenheit angehören. Ab 1. Juli 2018 wird es das Sachwalterrecht ablösen, das auch die UN-Behindertenrechtskonvention bereits massiv kritisiert hatte. Sachwalterschaften des alten Typs, die meist zu völliger Rechtlosigkeit der Besachwalteten ohne Aussicht auf eine Wiederauflösung der Sachwalterschaft führen, sollen künftig möglichst lange hintangehalten werden. Ein vierstufiges Modell soll den Erwachsenenschutz sicherstellen.
Volksanwaltschaft publizierte Handbuch zum neuen Gesetz
Stufe eins ist die bereits bestehende Vorsorgevollmacht. Damit kann jeder zu jedem Zeitpunkt seines Lebens einen anderen bestimmen oder auch ausschließen, in gewissen Belangen für ihn zu entscheiden, wenn er selbst dazu nicht mehr in der Lage ist. Neu ist Stufe zwei: Volljährige Personen mit geringen Beeinträchtigungen können im Rahmen der "gewählten Erwachsenenvertretung" eine Person ihres Vertrauens für einzelne Angelegenheiten oder mehr mit der Vertretung beauftragen. Stufe drei ist die "gesetzliche Erwachsenenvertretung", die jeder beantragen kann - zum Vertreter bestellt werden kann aber nur ein Familienangehöriger, und der Betroffene muss diesen akzeptieren. Als vierte Stufe soll schließlich der "gerichtliche Erwachsenenvertreter" den bisherigen Sachwalter ersetzen.
Unterstützen statt Entmündigen: Das ist das Kernziel des neuen Erwachsenenschutzgesetzes. Mit diesem allein ist es laut Brinek aber noch nicht getan. Damit das Ziel auch tatsächlich umgesetzt wird, müssten die handelnden Akteure wie das gerichtliche und das Verwaltungspersonal, Notare und Anwälte den Wandel auch vollziehen.
Was konkret das aus Sicht diverser Experten wie Juristen und Soziologen bedeutet, hat Brinek in Buchform gebracht. In der soeben erschienenen Publikation der Volksanwaltschaft "Erwachsenenschutz statt Sachwalterschaft" nehmen die Experten dazu Stellung und kommentieren und diskutieren Entwicklungen und Reformwege, die zu einer erfolgreichen Umsetzung beitragen könnten. Es sei eine Art Handbuch zum neuen Gesetz, so Brinek, das sich an die Akteure in allen beruflichen Feldern und Disziplinen, die Angehörigen und Betroffenen richte und an "alle, die mit der Schaffung einer verbesserten Lebenswelt zu tun haben".
Doppelt so viele Sachwalterschaften wie 2013
Die Zeit drängt. Denn die Zahl der Sachwalterschaften habe sich seit 2013 von 30.000 auf 60.000 verdoppelt, sagt Brinek, die jährlich zwischen 200 und 300 diesbezügliche Beschwerden registriert. In Folge der Testphase zum neuen Erwachsenenschutzgesetz, die seit einigen Jahren läuft, habe die Zahl zumindest stagniert. Dabei wurden Clearingstellen in Sachwaltervereinen eingerichtet, bei denen abgetestet wird, welche Art von Vertretung im Einzelfall notwendig ist.
In den Städten werden laut Brinek mehr als die Hälfte der Sachwalterschaften von Rechtsanwälten übernommen, auf dem Land eher von den Angehörigen. In Wien und Niederösterreich ist es sogar Voraussetzung, einen Sachwalter zu haben, um einen Pflegeplatz zu bekommen. Ein Rechtsanwalt betreue hier mitunter ganze Sektionen, so Brinek. Warum? "Weil es vermutlich bequemer ist, mit einem Rechtsanwalt zu kommunizieren als mit dem Betroffenen selbst."
Mit dem neuen Gesetz soll auch unterbunden werden, dass Rechtsanwälte ein Geschäftsmodell aus den Sachwalterschaften entwickeln, indem sie etwa mehrere hundert übernehmen. Jedem Sachwalter - egal, ob Angehöriger oder Rechtsanwalt - stehen nämlich fünf Prozent des Einkommens und bis zu zwei Prozent des Vermögens sowie Aufwandsentschädigungen gegen Rechnung zu. Im Gegenzug muss dem Gericht, das auch den Sachwalter bestimmt, einmal jährlich eine Rechnung über die Vermögensverwaltung vorgelegt werden. Der Besachwaltete erhält ein Taschengeld. Gleich bleibt zwar, dass Rechtsanwälte mindestens fünf Sachwalterschaften übernehmen müssen - sollen es mehr sein, müssen sie aber künftig Qualitätskriterien wie die Einbindung eines Sozialarbeiters offenlegen.
Grundsätzlich wäre etwa die Hälfte der aktuellen Sachwalterschaften ersetzbar, schreiben der Jurist Walter Hammerschick und die Soziologin Hemma Mayrhofer in Brineks Buch. Anhand eines erarbeiteten Modells kamen sie zu diesem Schluss.
Finanzierung des Gesetzes laut Justizminister gesichert
Die Finanzierung des Gesetzes sei nun jedenfalls nach einem Bestätigungsschreiben des Finanzministers gesichert, sagte Justizminister Wolfgang Brandstetter am Mittwoch bei der Buchpräsentation in der Volksanwaltschaft. Das neue Erwachsenenschutzgesetz könne ohne Einschränkungen durchgeführt werden. Brandstetter zeigte sich zuversichtlich, dass künftig maßgeschneiderte Lösungen für Betroffene im Sinne der Menschlichkeit angeboten werden könnten. Behindertenanwalt Hansjörg Hofer unterstrich die Wichtigkeit des Gesetzes. "Menschen müssen ihre Entscheidungen so weit als möglich selber treffen können."
Zum Buch
"Erwachsenenschutz statt Sachwalterschaft". Das 208 Seiten umfassende Buch von Volksanwältin Gertrude Brinek enthält Beiträge diverser Experten wie Juristen und Soziologen über das neue Erwachsenenschutzgesetz. Die Publikation der Volksanwaltschaft ist im Verlag Edition Ausblick erschienen und im österreichischen Buchhandel erhältlich. Es kostet 19,90 Euro.