Europäische Care-Strategie: Vieles offen, zu unverbindlich
Die im September 2022 präsentierte Europäische Care Strategie war Thema mehrerer Veranstaltungen in Brüssel, an denen u. a. der für Pflege zuständige Volksanwalt Bernhard Achitz, AK-Präsidentin Renate Anderl, Mitglieder des Europäischen Parlaments und Vertreterinnen und Vertretern von NGOs teilnahmen. Die Europäische Kommission hat Anfang September eine Pflege- und Betreuungsstrategie (European Care Strategy) präsentiert. Sie soll einen Beitrag leisten, die Situation der Pflegenden, die Qualität der Betreuung von Pflegebedürftigen, die Elementarpädagogik und Kinderbetreuung zu verbessern.
Volksanwalt Achitz: EU muss Fokus der Care-Strategie verbreitern
„Mit der Pflege gibt es in vielen Ländern große Probleme. Es ist daher wichtig, dass sich die EU dieses Themas annimmt. Das erhöht den Druck auf die Mitgliedsländer, der Pflege mehr Aufmerksamkeit zu widmen und mehr Ressourcen bereitzustellen“, sagte Volksanwalt Bernhard Achitz. Bei einem Austausch im Europäischen Parlament auf Einladung von Vizepräsidentin Evelyn Regner und bei einer Podiumsdiskussion in der Ständigen Vertretung machte er auf die menschenrechtlichen Aspekte des Pflegethemas aufmerksam. Die Volksanwaltschaft ist für die präventive Menschenrechtskontrolle in Einrichtungen zuständig, wo es zu Freiheitsbeschränkungen kommen kann. Das sind nicht nur Gefängnisse, sondern zum Beispiel auch Alten- und Pflegeheime, Jugend-WGs, Psychiatrien oder Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Achitz: „Überall dort sehen wir: Je größer der Personalmangel, desto höher die Gefahr, dass Menschenrechte verletzt werden.“
Die Care Strategy befasst sich einerseits mit der Altenpflege, andererseits mit den Kindergärten - „aber alles dazwischen kommt leider nicht vor“, fordert Achitz einen „breiteren Fokus der Care Strategy, etwa auf Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sowie für Kinder und Jugendliche.“ Viel Geld würde in die Pflegeausbildung fließen, aber die Absolventinnen und Absolventen würden vor allem in den Spitälern arbeiten wollen. „Die Langzeitpflegeeinrichtungen haben davon aber nicht viel, der Druck auf die Arbeitsbedingungen bleibt.“ Eine Aufgabe für eine EU-Care-Strategy wären die Erhebung des Pflegebedarfs für jedes Land, damit klar ist, wie weit das Pflegeangebot ausgeweitet werden muss. Auch klare Vorgaben für Personalschlüssel in allen Bereichen der formellen Pflege sind notwendig. „Und zwar reale Personalschlüssel, Langzeitkrankenstände, Karenzen usw. dürfen nicht eingerechnet werden“, so Achitz. Mindeststandards sollte die EU für die 24-Stunden-Betreuung definieren. Achitz: „In Österreich herrscht hier legalisierte Scheinselbständigkeit. Regulierung ist überfällig.“
Anderl: Finanzierung von Pflege und Betreuung mit gerechten Steuern
„Es ist gut, dass die Themen Pflege und Betreuung nun auf die europäische Ebene gehoben wurden“, sagte AK-Präsidentin Renate Anderl: „Arbeiterkammer und Gewerkschaften haben schon vor Beginn der Pandemie auf die Herausforderungen in der Pflege hingewiesen, wir begrüßen die Pflegestrategie daher.“ Allerdings würden wichtige Dinge fehlen, darunter überprüfbare Ziele und konkrete europarechtliche Maßnahmen, um diese auch zu erreichen. Die Beschränkung von Care-Arbeit auf Kinderbetreuung und Langzeitpflege lasse außerdem große Bereiche von Care-Arbeit unberücksichtigt. Zur Frage der Finanzierung von Pflege und Betreuung ist Anderl deutlich: „Wir sehen, dass die Reichen reicher werden und die Armen ärmer, die Sozialstaaten kommen unter Druck. Daher brauchen wir endlich gerechtere Steuern, vor allem Erbschafts- und Vermögenssteuern.“
Regner: Ausgangspunkt der Care-Strategie war Thema Gleichstellung
„Es ist gut, dass es die Europäische Pflegestrategie gibt, sie enthält gute Elemente – allerdings fehlt einiges“, betonte Evelyn Regner, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Nur dank der beharrlichen Vorarbeiten des EU-Parlaments hat die EU-Kommission überhaupt etwas vorgelegt. „Wir haben uns dort die Auswirkungen von COVID-19 auf die Frauen angeschaut. Die bestehenden Ungleichheiten haben sich in der Krise noch weiter verschärft. Wir haben die Kommission aufgefordert, etwas vorzulegen, damit die Gleichstellung nicht noch weiter zurückfällt, das war der Ausgangspunkt der Care-Strategie.“ Auch Regner sieht, dass der Blick auf das Thema daher breiter sein müsse. Sie bedauert außerdem, dass es sich nur um Empfehlungen handle, die nicht verbindlich umzusetzen seien.
Mark Bergfeld, Direktor Pflegesektor bei UNI Europa, kritisiert, dass es für die Personalsituation keine einheitlichen Standards gebe. „Bei Personalschlüsseln rechnen manche Einrichtungen auch Putzkräfte und Küchenpersonal dazu.“ Auch Bergfeld spricht den Genderaspekt an: „Die Situation würde sich rasch ändern, wenn in den Care-Branchen mehrheitlich Männer arbeiten würden.“ Aude Bousseuil, Generaldelegierte beim Europäischen Verband für Familienbeschäftigung, häusliche Pflege & Home Care, kann der Care-Strategie positiv abgewinnen, dass es sie überhaupt gibt. Allerdings geht es auch ihr zu wenig weit: „Private Care-Arbeit ist noch weniger im Fokus als Pflegearbeit generell. Dass sie in der Strategie kaum Erwähnung findet, lässt zwei Klassen von Pflegearbeitsmarkt befürchten.“
Arbeitsbedingungen und Einkommen als Knackpunkt für mehr Personal
In der Care-Stretegie würden die richtigen Themen angesprochen, meinte Gregor Tomschizek, Präsident von Social Employers, „konkrete Lösungsansätze fehlen allerdings. Man kann das als Leitfaden sehen, an dem weitergearbeitet werden muss.“ Ein großes Problem sei der Personalmangel, den Tomschizek auf die schlechte Bezahlung zurückführt. Dabei gebe es in Österreich und in Europa kaum eine Branche mit so großem Wachstum wie die Pflege. Ihm seien zwei Aspekte wichtig: Die Leistungen müssten leistbar und erreichbar sein und es müsse angemessen Gehälter für die Beschäftigten geben. Jan Willem Goudriaan, EPSU-Generalsekretär, bestätigt, dass der Arbeitsdruck in der Branche extrem sei, das sei vor allem auf zu wenig Personal zurückzuführen. Laut EPSU hätten 420.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Branche verlassen. „Wenn das nicht bearbeitet wird, wird das eine ganz große Krise. Wir haben die Strategie begrüßt, sie könnte aber mehr Biss haben, zum Beispiel könnte man öffentliche Förderungen an das Vorhandensein von Kollektivverträgen knüpfen. Positiv bewerte Goudriaan an der Pflegestrategie, dass sie die Ansicht der Kommission deutlich mache, dass Pflege und Betreuung öffentliche Güter seien.
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Achitz: „Je größer der Personalmangel, desto höher die Gefahr, dass Menschenrechte verletzt werden.“
Bildnachweise: AK/Julie de Bellaing