Achitz: Einschränkung von Grundbedürfnissen ist bereits Gewalt
„Gewalt gegen ältere Menschen kommt sowohl im öffentlichen Raum als auch in Institutionen und innerhalb der Familie vor. In der allgemeinen Vorstellung wird Gewalt mit körperlichen Attacken gleichgesetzt. Sie tritt jedoch auch in vielen anderen Formen auf und beginnt meist damit, dass Selbstbestimmung und Selbstwert leiden, wenn Hilfsbedürftigkeit dazu führt, dass plötzlich andere bestimmen, was gut für ältere Menschen ist. Ich möchte den Welttag gegen die Misshandlung älterer Menschen nützen, um auf Gewalt hinzuweisen, die oft unbemerkt bleibt“, sagt Volksanwalt Bernhard Achitz anlässlich des von der WHO ausgerufenen Welttags gegen die Misshandlung älterer Menschen am 15. Juni: „Wenn Grundbedürfnisse eines Menschen beeinträchtigt oder eingeschränkt werden, dann ist das bereits Gewalt. Wünsche bagatellisieren, die Verwendung infantiler Sprache, Kritik und Beschämung infolge körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen, Kontakte zu anderen erzwingen bzw. verhindern oder die Androhung von Zwang sind Gewalthandlungen, egal ob sie absichtlich oder unabsichtlich erfolgen.“ Menschen mit Behinderungen, aber auch hochaltrige und pflegebedürftige Menschen sind besonders gefährdet, in ihren grundlegenden Menschenrechten verletzt zu werden.
Die Kommissionen der Volksanwaltschaft besuchen im Rahmen der Präventiven Menschenrechtskontrolle u. a. Alters- und Pflegeheime, und die Kommissionsmitglieder stoßen in diesem Umfeld auf institutionelle Fremdbestimmtheit und systemische Gewalt. Sie reichen von Fällen fehlender Selbstbestimmung (festgelegte Essens- und Schlafzeiten, Duschtag usw.) über Vernachlässigung (Bedürfnisse ignorieren, zu lange auf Hilfe warten lassen, unzureichend im Alltag helfen usw.) und manchmal bishin zu körperlicher oder seelischer Misshandlung.
Personalmangel führt zu Freiheitsbeschränkungen
Achitz betont, dass nur in den allerseltensten Fällen böse Absicht zur Gewalt in den Pflegeheimen führt: „Die Beschäftigten in der Pflege tun ihr Bestes. Die Kontrollen unserer Kommissionen zeigen, dass Menschenrechtsverletzungen sehr oft eine Folge von Personalmangel sind.“ Die Personalknappheit führt zu weniger Aktivierung und Beschäftigung der Bewohnerinnen und Bewohner. Nicht nur in Alten-und Pflegeeinrichtungen, sondern auch in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen spitzt sich die Personalsituation immer weiter zu, was nicht ohne Folgen bleibt. Schon 2022 wurde ein Rekordwert an neu gemeldeten Freiheitsbeschränkungen verzeichnet. 2023 ist dieser Wert erneut angestiegen, eine überaus besorgniserregende Entwicklung. Die häufigste Beschränkungsart ist jene durch Medikamente, oft in Verbindung mit anderen – mechanischen oder elektronischen – Freiheitsbeschränkungen.
Lücken bei Schmerzbehandlung
Körperliche Misshandlung kann auch durch Unterlassung geschehen, etwa wenn älteren Menschen die Diagnose und Behandlung von Schmerzen vorenthalten wird. Darauf hat die Volksanwaltschaft bei ihrer bisher letzten Präsentation eines Prüfschwerpunkts hingewiesen. „Bei allen Bewohnerinnen und Bewohnern müssen Schmerzen systematisch und standardisiert erfasst werden“, fordert Achitz: „Vor allem bei der Betreuung von Menschen mit Demenz oder anderen kognitiven oder verbalen Einschränkungen ist ein standardisiertes Schmerzmanagement notwendig.“
In einem Viertel der im Rahmen der Schwerpunktprüfung von den Kommissionen der Volksanwaltschaft besuchten Alten- und Pflegeheimen gab es keinerlei systematisches, dokumentiertes Schmerzmanagement, bzw. es wurden keinerlei Maßnahmen zu Erkennung, Prävention und Behandlung von Schmerzen angewendet. In jeder fünften Einrichtung wurden keine Schmerzeinschätzungsinstrumente verwendet, weder für Demenzkranke noch für kognitiv leistungsfähige Bewohnerinnen und Bewohner.
Pflegedokumentation sichert Qualität und kann Gewalt verhindern
Neben Gewaltpräventionskonzepten, die in den Heimen auch tatsächlich gelebt werden, ist umfassende und lückenlose Pflegedokumentation wesentlich. „Die Pflicht zur Dokumentation ist keine bürokratische Schikane, sondern ein Instrument der Qualitätssicherung. Sie ist, vor allem bei nonverbalen älteren Menschen, bei Bewohnerinnen und Bewohnern mit Behinderungen oder Demenz oft die einzige Möglichkeit, später zu prüfen, ob Fehler in der Pflege passiert sind“, sagt Volksanwalt Achitz: „Pflegedokumentation dient auch der Prävention von Gewalt.“ Wenn Träger von Alten- und Pflegeheimen ihren Beschäftigten die Arbeit erleichtern wollen, beschaffen sie zeitsparende und nicht manipulierbare elektronische Dokumentationssysteme.“
SERVICE: Die Volksanwaltschaft ist unter post@volksanwaltschaft.gv.at sowie unter der kostenlosen Servicenummer 0800 223 223 erreichbar.