Soziale Grundrechte in der Verfassung verankern

29. April 2022

Gehören soziale Rechte in die Verfassung? Diese Frage diskutierte Volksanwalt Bernhard Achitz im FalterRadio mit Wolfgang Mazal (Universität Wien), Lukas Sustala (NEOS-Lab) und Oliver Picek (Momentum Institut).

Der Sozialstaat gehört zu den großen Errungenschaften der westlichen Demokratie, aber das soziale Netz ist brüchig geworden, leitete Moderator Raimund Löw ein – und stellte die Frage, ob soziale Rechte im Verfassungsrang die Sicherheit in Österreich erhöhen könnten.

„Der Sozialstaat hat sich in vielen Fällen bewährt, aber das heißt nicht, dass er gut abgesichert ist“, analysierte Achitz: „Die Pandemie hat gnadenlos seine Schwächen aufgezeigt. Vor allem im Pflegebereich wurde offensichtlich, dass der Staat seinen Verpflichtungen nicht zu 100 Prozent nachkommen konnte. Der Personalmangel ist immer gravierender geworden. Durch die Pandemie wurden wir darauf aufmerksam gemacht, dass weitere Investitionen dringend notwendig sind.“ Und er warnte: „Sehr viel Geld wurde ausgegeben, und bald werden wieder die Diskussionen aufkommen, wo der Staat dieses Geld wieder hereinbekommt. Dann werden wieder Sozialkürzungen diskutiert werden, und da ist es notwendig, den Sozialstaat besser abzusichern.“

 

 

 

Sustala: Sozialstaat funktioniert – aber ist er auch treffsicher?

„In der Pandemie hat sich gezeigt, dass der Sozialstaat funktioniert“, meinte NEOS-Ökonom Lukas Sustala: „Aber man muss sich anschauen, ob er treffsicher ist, ob die Leistungen dort ankommen, wo sie wirklich benötigt werden.“ In Österreich werde viel zu wenig diskutiert, wo man Ausgaben einsparen könne. Hingegen wäre „vorausschauende Planung gefragt – es war ja absehbar, dass in der Pflege etwas passieren muss.“

Picek: Großes Investitionspaket in den Sozialstaat ist fällig

Oliver Picek vom Momentum-Institut und ebenfalls Ökonom, sagte hingegen: „Ein großes Investitionspaket in den Sozialstaat ist fällig“ und forderte die Anpassung von Sozialleistungen an die Inflation: „Einmalzahlungen reichen nicht.“ 1,2 Mio. Menschen in Ö sind armutsgefährdet. Picek: „Wenn man arbeitslos wird, verliert man gleich einmal die Hälfte seines Einkommens, während die Kosten für Miete, Strom, Heizung … massiv steigen. Das Ziel muss sein, Sozialleistungen wie die Mindestsicherung, Mindestpension und Arbeitslosengeld auf existenzsicherndes Niveau anzuheben.“

Mazal: Österreichs Sozialstaats-Fleckerlteppich anfällig für populistische Forderungen

Sozialrecht-Professor Wolfgang Mazal sagte hingegen: „Niemand stellt in Österreich die Sozialstaatlichkeit prinzipiell in Frage. Aber eine andere Frage ist das Niveau des Sozialstaats und die Frage der Instrumente der Sozialstaatlichkeit. Darüber gibt es intensive Debatten.“ Österreich habe kein System der Sozialstaatlichkeit, sondern einen „Fleckerlteppich“ und sei anfällig für populistische Forderungen.

Pflege: Auf Einschränkung sozialer Grundrechte folgt auch Freiheitsentzug

Die Höhe der Sozialleistungen ist die eine Frage, eine andere aber die nach der Verankerung in der österreichischen Verfassung. Volksanwalt Achitz sagte, man dürfe den Blick nicht nur auf Sozialleistungen wie etwa die Mindestsicherung lenken, auch das Gesundheits- und Pflegesystem gehöre dazu. Und da sei der Zusammenhang zwischen sozialen Rechten und den persönlichen Grund- und Freiheitsrechten klar: „Wo die Volksanwaltschaft Menschenrechtskontrolle durchführt, etwa in Pflegeheimen, zeigt sich: Wenn die materiellen Rahmenbedingungen nicht stimmen, wenn Personalmangel herrscht, dann sind Eingriffe in Grund- und Freiheitsrechte programmiert.“

Verfassungsgerichtshof soll Eingriff in soziale Grundrechte kontrollieren

„Die Pandemie hat gezeigt, wie schnell es passieren kann, dass die Politik in Grundrechte eingreift, sogar in verfassungsrechtlich verbriefte Grundrechte. Die sozialen Grundrechte sind leider nicht verfassungsrechtlich verbrieft – und unterliegt daher nicht der Kontrolle des Verfassungsgerichtshofs. Aber auch ein Eingriff in soziale Rechte sollte der Kontrolle des VfGH unterliegen. Eine moderne Verfassung sollte nicht nur Grund- und Freiheitsrechte garantieren, sondern auch soziale Grund- und Menschenrechte.“

Auch Freiheitsrechte werden laufend neu interpretiert – weil sie in der Verfassung garantiert sind

Die Aufnahme der sozialen Grundrechte in die Verfassung würde nicht bestimmte Leistungen, erst recht nicht deren Höhe, in Stein meißeln oder einklagbar machen. Achitz: „Wenn wir einmal das Recht auf Absicherung im Alter in der Verfassung verankert haben, entbindet uns das nicht von der Diskussion, ab wann, in welcher Höhe diese Absicherung zu geben ist.“ Selbstverständlich würde man über die Art der Absicherung und den Grad der Absicherung dann weiterhin Diskussionen führen müssen, und auch immer wieder Anpassungen durchführen: „Das passiert ja auch bei den Freiheitsrechten, deren Interpretation sich im Lauf der Jahre immer wieder geändert hat. Wäre früher etwa erst das Einsperren im Netzbett ein unzumutbarer Eingriff gewesen, wird heute auch medikamentöse Behandlung unter Umständen als Freiheitsentzug gewertet. Diese Weiterentwicklung des Grundrechts ist deshalb möglich, weil das Grundrecht in der Verfassung verankert ist, weil der VfGH immer wieder seine Meinung dazu abgibt und weil Expertinnen und Experten im Rahmen des Verfassungsbogens immer wieder darüber diskutieren.“