Schlampereien reißen ein

25. März 2017

Ein Artikel von Walter Hämmerle.

Österreich steht beim Schutz der Grundrechte gut da, zuletzt häufen sich jedoch die Sorgenfalten.

Wien. Weltspitze von außen betrachtet, ein Jammertal in der Selbstdiagnose: Zwischen diesen Polen pendeln die Meinungen, wenn es um den Schutz der Grund- und Freiheitsrechte in Österreich geht. Den Spitzenplatz attestierte 2010 das Washingtoner World Justice Project, das 35 Länder untersuchte. Insgesamt schnitten dabei Schweden und die Niederlande am besten ab, in der Kategorie "Schutz der Grundrechte" erreichte jedoch die Alpenrepublik den besten Platz.

Die Gegenthese vertreten diverse NGO, von der Liga für Menschenrechte über die Armutskonferenz bis hin zu Zara. Die orteten etwa anlässlich des jüngsten Internationalen Tags der Menschenrechte "gravierende Defizite", insbesondere in den Bereichen Maßnahmenvollzug (zu viele Einweisungen), Gewalt gegen Frauen (zu wenige Verurteilungen), bei der Mindestsicherung (zu viele Verschlechterungen) sowie bei Hass im Internet (kaum Anlaufstellen für Betroffene).

Wer hat nun eher recht? Von der Papierform her wohl das World Justice Project, denn in Österreich sind die Grundrechte teils doppelt und dreifach verankert. Die Republik kennt nämlich keinen geschlossenen Gesetzescorpus, in dem die Grund- und Freiheitsrechte zusammengefasst sind, vielmehr verteilen sich diese auf eine Vielzahl einzelner Gesetze und Abkommen. Ein Umstand, der zweifellos die Nutzfreundlichkeit aus Bürgersicht beeinträchtigt, für die juristische Praxis aber belanglos ist. Die wichtigsten Rechtsquellen sind: Staatsgrundgesetz von 1867; Bundes-Verfassungsgesetz; der Staatsvertrag; die Europäische Menschenrechtskonvention, die Österreich 1958 in Kraft setzte, samt Zusatzprotokolle; und die Europäische Grundrechtecharta von 2000.

Wermutstropfen soziale Grundrechte
Doch Papier ist geduldig, entscheidend ist, wie sehr sich die in den Paragrafen festgelegten subjektiven Rechte auch durchsetzen lassen. Walter Berka, emeritierter Professor für Verfassungsrecht in Salzburg und ein ausgewiesener Experte für Grundrechte, sieht Österreich in dieser Hinsicht "sehr gut aufgestellt". Allerdings mit einer Einschränkung: "Es fehlt eine Verankerung der sozialen Grundrechte." Damit gemeint ist ein grundrechtlich verbriefter Schutz vor Verarmung, ein Anspruch auf eine befriedigende Arbeit sowie auf eine menschenwürdige Unterbringung.

Berka weiß natürlich um die politische Brisanz dieses Themas. Zuletzt wurden diese im Rahmen des Österreich-Konvents politisch gewogen und als nicht konsensfähig auf die Seite geschoben. Die Geister von SPÖ und ÖVP schieden sich an der juristischen Durchsetzungsfähigkeit solcher Ansprüche. Mittlerweile ist Berka selbst skeptisch, ob die Politik je die dafür notwendige Kraftanstrengung aufbringen werde, zumal damit ein völliger Umbau des Grundrechtskatalogs notwendig sei. Die Problematik einer Durchsetzung solcher sozialer Grundrechte hält der Experte für lösbar, man müsse dazu eben die Frage der Staatshaftung erweitern; dies sei möglich, "weil wir eine wohlhabende Gesellschaft sind".

Abgesehen von diesem Wermutstropfen und trotz seines grundsätzlichen Lobs mahnt Berka jedoch zu Wachsamkeit, konstatiert er doch einen zunehmend "schlampigen Umgang" mit dem Grundrechtsschutz in Gegenwart und jüngerer Vergangenheit. Als Beleg führt er die aktuellen Debatten über Kopftuch und Burka an, und auch die geplanten Eingriffe in die Versammlungsfreiheit hält er für "unnötig" und "unglückselig".

Es bestehe die Gefahr, dass "wir uns an Beschränkungen unserer Freiheit gewöhnen". Angesichts des Umstands, dass der Islam hierzulande mittlerweile zur zweitgrößten Religionsgemeinschaft aufgestiegen ist, empfiehlt der Verfassungsrechtler statt simpler Verbote eine ausgewogene und von aufgeklärter Vernunft geleitete Lösungssuche. Damit mische sich der Staat ein, wie sich Menschen in der Öffentlichkeit kleiden, "das ist ein Zeichen eines illiberalen Systems". Berka: "Mich empört es ja auch, wenn ich eine vollverschleierte Frau sehe oder wenn bereits im Kindergarten die Mädchen gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen. Ich habe nur Zweifel, ob den Frauen und Mädchen wirklich geholfen wird, wenn wir das gesetzlich verbieten und die Frauen dann das Haus nicht mehr verlassen dürfen."

Traditionen haben Berechtigung
Dabei hält Berka es nicht für grundsätzlich verwerflich, sich mithilfe symbolischer Politik der eigenen Identität zu versichern. Es sei zulässig, Traditionen zu pflegen, wenn diese in eine tragende Rolle gewachsen sind. Als Beispiel führt er die christlich geprägte Feiertagsordnung an, also die Sonntagsruhe, Weihnachten, Ostern, Pfingsten etc; diese seien in unsere weitgehend säkularisierte Welt eingegangen, was auch für das Kreuz in Schulen und Kindergärten gelten könne. Diese Traditionen dürften jedoch nicht zu Diskriminierung führen.

Für die Zukunft sieht Berka neue grundrechtliche Konfliktkonstellationen: So soll das Recht auf Vergessenwerden sicherstellen, dass digitale Informationen mit einem Personenbezug nicht dauerhaft zur Verfügung stehen. Das kollidiere jedoch mit dem Recht auf verlässliche und vollständige Archivierung relevanter Ereignisse. "Das ist ein schwieriges Spannungsverhältnis, weil die Bürger ja beides wollen."

Und welche Rolle spielt Geld bei der individuellen Durchsetzung von Grundrechten in Österreich? Zwar sei der Zugang zu Gerichten stets mit Kosten verbunden, dennoch sieht Berka in dieser Hinsicht keine wirkliche Barriere. Allenfalls sei denkbar, dass es bei Randgruppen wie Obdachlosen oder etwa Heiminsassen zu Defiziten beim Zugang kommen könne. Berka setzt hier auf die Arbeit von Institutionen wie der Volksanwaltschaft, die amtlicherseits für die präventive Kontrolle der Menschenrechte zuständig ist, und Hilfsorganisationen.

 

Information
Walter Berka wurde 1948 in Saalfelden geboren. Seit 1994 ist er Professor für Allgemeine Staatslehre, Verwaltungslehre, Verfassungs- und Verwaltungsrecht in Salzburg mit Schwerpunkt Grund- und Menschenrechte.