Maßnahmenvollzug - quo vadis?

1. Juni 2020

Die Zahl der psychisch auffälligen Straftäter steigt. Wann ihre Haftplätze wieder zur Verfügung stehen, ist nicht absehbar: Der Maßnahmenvollzug kommt nicht aus den Schlagzeilen. Wöchentlich wird von Gewalttaten berichtet, die auf eine schwere psychische Störung des Täters deuten. Kaum, dass ein Verdächtiger gefasst ist, wird auch schon der Ruf nach einer Einweisung in eine geschlossene Anstalt laut. Faktum ist, dass die Anzahl der psychisch auffälligen Straftäter stetig steigt. Den Strafvollzug stellt dies vor enorme Herausforderungen. Waren es vor einigen Jahren knapp 800 Personen, über die das Gericht zusätzlich oder anstelle einer Freiheitsstrafe eine freiheitsentziehende vorbeugende Maßnahme verhängte, so werden mittlerweile mehr als 1.071 Personen in Sonderanstalten oder forensischen Abteilungen psychiatrischer Spitäler angehalten.

Während bei den meisten Strafgefangenen absehbar ist, wann ihr jeweiliger Haftplatz wieder zur Verfügung steht, ist dies bei Untergebrachten im Maßnahmenvollzug nicht der Fall. Ihre Anhaltung erfolgt so lange, als ihre Gefährlichkeit währt. Das kann in einigen Fällen im wahrsten Sinn des Wortes "lebenslang" sein. Ob eine weitere Unterbringung gerechtfertigt ist, hat das Gericht "mindestens alljährlich" zu prüfen.

Psychiater sind in Österreich rar

Keine Einweisung in den Maßnahmenvollzug oder Entlassung aus diesem erfolgt ohne vorherige Untersuchung durch einen Sachverständigen aus dem Gebiet der Psychiatrie. Psychiater sind in Österreich rar. Nur wenige von ihnen lassen sich als Gutachter eintragen. Der Druck, der auf ihnen lastet, ist hoch. Jeder Rückfällige wird ihnen zum Vorwurf gemacht. Im Klagsfall haften sie persönlich. Der Bund tritt für sie nicht in Vorlage. Sachverständige unterliegen nicht dem Amtshaftungsgesetz. Ihre Honorierung ist unangemessen; sie kann man nicht wirklich als Aufwandsentschädigung sehen. So nimmt es nicht Wunder, dass sich kaum Nachwuchs findet. Mehr als die Hälfte der eingetragenen psychiatrischen Gutachter in Wien ist 65 Jahre alt oder älter.

Gutachten sind ein Schlüsselfaktor im Maßnahmenvollzug. Sachverständige haben ihre Gutachten - wie es in unserer Strafprozessordnung heißt - "nach bestem Wissen und Gewissen" zu erstellen. Dabei sollen sie "nach den Regeln der Wissenschaft" vorgehen. Wie diese Regeln lauten, steht nirgendwo geschrieben.

Einen Lehrstuhl für forensische Psychiatrie gibt es hier nicht

Einen Lehrstuhl für forensische Psychiatrie, an dem man inhaltliche Mindestanforderungen für Gutachten im Maßnahmenvollzug vermitteln könnte, gibt es an keiner hiesigen Universität. So gelangen die unterschiedlichsten Methoden zur Anwendung, was naturgemäß zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Zur Treffsicherheit von Prognoseentscheidungen trägt diese Methodenvielfalt nicht bei

Eine Prognose aber ist allemal zu treffen, wenn sich die Frage stellt, ob eine Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug vertreten werden kann. Die Entlassung verfügt das Gericht stets unter Vorschreibung von Auflagen. Ihre Einhaltung ist dem Richter nachzuweisen. In 90 Prozent der Fälle erhält der Entlassene die Weisung, während der Probezeit in einer sozialtherapeutischen Wohneinrichtung Unterkunft zu nehmen. Die Vollzugsverwaltung stellt dies vor das nächste Problem. Stehen solche Wohnplätze nicht ausreichend zur Verfügung und drängen mehr Aufzunehmende nach, als Angehaltene entlassen werden können, muss dies ob kurz oder lang zum Kollaps des Systems führen.

Österreichs Justizanstalten sind zum Bersten voll. Manche weisen eine Auslastung von 120 Prozent und mehr auf. Immer wieder kommt es zu beängstigenden Situationen, wenn Insassen eine akut psychiatrische Versorgung benötigen. Betten für diese Patienten werden im Großraum von Wien dringend benötigt. Statt sie zu schaffen, sperrt man die einzige bestehende Einrichtung zu.

Die Gefährlichkeit eines Menschen baut sich nicht von selbst ab. Im Gegenteil: Bleibt sie unbehandelt, werden Störungs- und Krankheitsbilder nur schlimmer. Behandlung und Betreuung aber setzen Ressourcen voraus, eine zeitgemäße Infrastruktur, Konzepte und vor allem ausreichend Personal, das fachlich geeignet und bereit ist, die Herausforderungen eines Alltags in einem geschlossenen System anzunehmen. Gerade diese Ressourcen fehlen der Vollzugsverwaltung.

Mittel für den Strafvollzug zu erhalten, ist in Zeiten knapper Budgets schwierig. Die Gesellschaft will öffentliche Gelder anderweitig eingesetzt sehen. Randgruppen haben es mit ihren Anliegen nie leicht; schon gar nicht, wenn sie keine Lobby haben oder auf die Solidarität der Mehrheit hoffen dürfen.

Kontrolleinrichtungen prangern an. Sie verweisen auf menschenunwürdige Bedingungen in den Einrichtungen. Druck kommt auch aus Straßburg. In einer Leitentscheidung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkannt, dass psychisch kranke Rechtsbrecher von Strafgefangenen zu trennen sind, in eigenen Einrichtungen untergebracht werden sollen und dort einen Anspruch auf ehestmögliche individuelle Behandlung haben.

Entwurf zu einem Reformgesetz

Neuerungen im Maßnahmenvollzug tun not. Auf dem Tisch des zuständigen Ministeriums liegt ein Konzept, das den Maßnahmenvollzug von Grund auf neu gestaltet. Das Papier bezeichnet sich selbst als Entwurf zu einem Reformgesetz. Es hat viele Vorschläge übernommen, die Experten einer 2014 eingerichteten Arbeitsgruppe zusammengetragen haben. Allein, mit einem neuen Rechtstext ist es nicht getan. Der Vollziehung müssen auch die entsprechenden Mittel für seine Umsetzung zur Verfügung stehen. In zig Berechnungen wurde nachgewiesen, was sich unsere Gesellschaft mit einem zeitgemäßen Maßnahmenvollzug erspart. Tatsächlich geändert hat sich wenig.

Über kurz oder lang werden fast alle Untergebrachten entlassen. Wenn es schon kein anderer Beweggrund ist, diesen Menschen während der Dauer ihrer Anhaltung eine zeitgemäße Behandlung und Betreuung angedeihen zu lassen und ihnen bei ihrer Resozialisierung zu helfen, sollte es zumindest der Sicherheitsaspekt sein. Mit der Entlassung von gefährlichen Menschen ist niemandem geholfen.