ARBEITSUNFÄLLE: OPFER KOMMEN NICHT IMMER ZU IHREM RECHT

30. August 2010

Seit 1990 gibt es im Leistungskatalog der gesetzlichen Unfallversicherung die so genannte Integritätsabgeltung. Dabei handelt es sich um eine einmalige Zahlung nach Arbeitsunfällen, bei denen Arbeitnehmervorschriften massiv missachtet wurden und die Unfallopfer schwer verletzt und dauerhaft beeinträchtigt wurden. Die Zahlung erfolgt zusätzlich zur Versehrtenrente, weil Schmerzengeldansprüche gegen die Arbeitgeberin oder den Arbeitgeber und leitende Angestellte wegen des Dienstgeberhaftungsprivilegs nicht durchgesetzt werden können. In der Praxis zeigt sich allerdings schon seit Jahren, dass diese für Härtefälle geschaffene Regelung kaum zum Tragen kommt. Bei jährlich rund 150.000 Arbeitsunfällen wurde sie in den letzten Jahren ganze acht Mal von der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) angewendet.

Ein 20-jähriger Elektroenergietechniker geriet auf einer Baustelle unverschuldet mit einer 6.000-Volt-Starkstromleitung in Berührung. Er überlebte, musste aber zahlreiche Operationen durchstehen und blieb am ganzen Körper entstellt. An der rechten Hand verlor er Daumen und Mittelfinger; der amputierte Ringfinger der linken Hand dient ihm als Daumenersatz. Die linke Hand ist noch schlimmer betroffen und seit dem Unfall ohne Funktion. Der Baustellenleiter wurde im Strafverfahren verurteilt, da insgesamt sieben Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten worden waren. Die AUVA erkannte Herrn N.N. eine Versehrtenrente zu, lehnte aber den Antrag auf Zuerkennung einer einmaligen Integritätsabgeltung ab. Sie argumentierte, dass eine Verkettung unglücklicher Umstände den Unfall verursacht hätte und keine grobe Fahrlässigkeit im Spiel gewesen war.

Derzeit wird die Situation von Unfallopfern bei der Entscheidung über eine Integritätsabfindung völlig ausgeblendet, obwohl diese einmalige Zahlung eigentlich einen gewissen Ausgleich für körperliche Schmerzen und seelisches Leid bieten soll. Die einmalige Abgeltung wird nur gewährt, wenn bei dem Arbeitsunfall Arbeitnehmervorschriften grob fahrlässig außer Acht gelassen wurden. Die Betrachtung konzentriert sich damit allein auf die Sphäre der Person, die für die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften verantwortlich ist. Auch die Judikatur trägt wesentlich dazu bei, dass die Integritätsabgeltung in der Praxis totes Recht ist. Die Gerichte haben den Begriff der „groben Fahrlässigkeit“, der Voraussetzung für eine Integritätsabgeltung ist, bisher sehr restriktiv interpretiert. So muss eine ungewöhnliche und auffallende Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht vorliegen.

Die Volksanwaltschaft tritt daher für eine Novellierung der Härteregelung ein, die sich stärker als bisher auch an der individuellen Situation der Unfallopfer orientieren sollte.