Handlungsbedarf in der 24-Stunden-Betreuung

21. November 2017

Bei einer Pressekonferenz präsentierten Volksanwalt Dr. Günther Kräuter, der Sozialexperte Prof. Kolland und die Geschäftsführerin der Harmony & Care GmbH Anja Silberbauer ihre innovativen Ansätze zu einer neuen Kultur des Alterns.

Der sozio-demografische Wandel ist eine der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Laut Statistik Austria wird die Zahl der über 80-Jährigen in Österreich bereits im Jahr 2020 auf über eine halbe Million Menschen ansteigen und sich bis 2050 auf über 1 Mio. weiter verdoppeln. „Der demografische Wandel wird begleitet von einer tiefgehenden Veränderung der Familienstrukturen, die sich auf die Pflege und Betreuung älterer Menschen auswirkt“, so der Altersforscher Prof. Dr. Franz Kolland von der Universität Wien.

Die Arbeit der Volksanwaltschaft

Die Volksanwaltschaft und ihre Kommissionen sind für die präventive Menschenrechtskontrolle in Österreich zuständig. Die sechs Expertenkommissionen der Volksanwaltschaft besuchen im Rahmen eines UNO-Mandats regelmäßig und unangekündigt Einrichtungen, in denen es zu Freiheitsentzug kommt oder kommen kann – darunter auch Alten- und Pflegeheime. Im aktuellen Bericht an das Parlament zeigt die Volksanwaltschaft zahlreiche strukturelle Mängel und Missstände auf, auch wenn das Pflegepersonal selbst in den allermeisten Fällen sehr engagiert ist. Ihre Empfehlungen, die sich aus diesen Besuchen ergeben, hat die Volksanwaltschaft in einer Broschüre zusammengefasst (siehe Download).

Volksanwalt Kräuter: „Darüber hinaus beklagen sich immer wieder Pflegebedürftige und Angehörige bei der Volksanwaltschaft über die 24-h-Betreuung zu Hause, die weitgehend ohne Kontrollen erfolgt.“ Sie berichten über mangelnde Qualifikation des Betreuungspersonals und Vernachlässigungen, bis hin zu Übergriffen und vereinzelt sogar Diebstählen. „Opfer sind jedoch auf beiden Seiten zu finden“, stellt Kräuter klar. „Die Großteils weiblichen Pflegekräfte werden oft unter falschen Voraussetzungen nach Österreich gelockt und nicht selten von Agenturen ausgenutzt.“

Eine Beobachtung, die auch Anja Silberbauer gemacht hat: „Es gibt einen großen Schwarzmarkt mit gefälschten Pflegezertifikaten, die eine Ausbildung im Pflegebereich bescheinigen. Diese Zertifikate werden in Österreich nicht entsprechend kontrolliert.“

Handlungsbedarf in der 24-h-Betreuung

  • Evaluierung der bestehenden Kontroll-Instrumente

Die Sozialversicherung der Bauern führt derzeit angekündigte Hausbesuche im Bereich 24-h-Betreuung durch. Laut Sozialministerium sei dabei in 99,9 % der Fälle alles in Ordnung. Volksanwalt Günther Kräuter: „Dieses Ergebnis macht skeptisch. Die derzeitigen Kontrollen müssen von externer Stelle evaluiert werden: Nach welchen Standards wird kontrolliert? Sind ausreichende und passende Hilfsmittel vorhanden? Werden präventive Aspekte ausreichend berücksichtigt wie Schmerz, Sturz und Gewalt?“

Längerfristig tritt die Volksanwaltschaft im Sinne des präventiven Schutzes von Menschenrechten für unangekündigte Kontrollen auch im Bereich der 24-h-Betreuung ein. Diese könnten an das Pflegegeld und die Förderung der 24-h-Betreuung gekoppelt sein.

  •  Verbindliche Qualitätskriterien für Agenturen

Derzeit gibt es in Österreich 763 Agenturen (lt. Gewerbeinformationssystem Austria-GISA). Für diese müssen verbindliche Qualitätskriterien eingeführt werden – wie bspw. bei der Ausbildung, beim Sprachniveau und den Arbeitsbedingungen. „Die Einführung eines staatlichen Qualitätsgütesiegels wäre sinnvoll“, erklärt Prof. Kolland. So könnten problematische Anbieter vom Markt gedrängt werden. Kolland hat hierfür einen Katalog an Qualitätskriterien für Agenturen entwickelt (siehe Download).

 Auch ein häufiger Wechsel des Pflegepersonals kann für alle Beteiligten sehr belastend sein. „Man muss sich vorstellen, dass Betreuungskräfte in zwei Turnussen arbeiten und Patienten für 24 Stunden, sieben Tage die Woche und meist über mehrere Monate oder Jahre mit der Pflegekraft verbringen und das sollte möglichst harmonisch erfolgen“, so Silberbauer. Viele Pflege- und Betreuungskräfte sind damit überfordert. Es folgen häufig Betreuungswechsel. Die pflegebedürftige Person und ihre Angehörigen werden bis zum Eintreffen der neuen Pflegekraft oft für Tage im Stich gelassen.

 „Auch pflegende Angehörige brauchen mehr Beratung und Unterstützung“, sind sich Kräuter und Kolland einig.

  • Pflegefinanzierung sichern, Pflegegeld erhöhen

Finanzierung und Leistbarkeit der Pflege müssen langfristig sichergestellt werden. Volksanwalt Kräuter: „Eine nachhaltige, solidarische Finanzierungslösung ist für die Zukunft der Pflege unerlässlich, das Pflegegeld muss jährlich valorisiert werden.“ Der Wertverlust beträgt seit Einführung des Pflegegeldes bereits mehr als 30 Prozent.

„Durch die Abschaffung des Pflegeregresses wird die Nachfrage nach Heimplätzen tendenziell steigen“, prognostiziert Prof. Kolland. Der Experte sagt lange Wartezeiten für einen Heimplatz voraus. Volkswirtschaftlich betrachtet ist es jedoch sinnvoll, auch in die Pflege zu Hause und verstärkt zu investieren. Die 24-h-Betreuung müsse daher verstärkt gefördert werden, nicht nur um die Heime zu entlasten sondern auch um dem Wunsch der Betroffenen nach Individualisierung der Pflege und einer selbstbestimmten Lebensführung zu entsprechen, so Kolland.

  • Mehr Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse

„Jeder möchte selbst bestimmen, welche Betreuungs- und Pflegeform er oder sie später in Anspruch nimmt“, so Silberbauer. Zwar wird in der 24-h-Betreuung meist auf fachliche Bedürfnisse der Patienten durch die Agenturen geachtet, auf die verschiedenen Persönlichkeiten der Betreuungskräfte und Patienten wird jedoch kaum Rücksicht genommen. Silberbauer hat mit ihrer Firma Harmony & Care daher unter wissenschaftlicher Begleitung ein System entwickelt, mit dem man Pflegepersonal und pflegebedürftige Personen, ideal aufeinander abstimmen kann.

Die erwähnten Trends machen einen Umbau des Pflege-Systems notwendig und erfordern eine neue Pflegekultur. „Auch wenn die Familie voraussichtlich an Bedeutung abnehmen wird, so ist eine strikt „öffentliche“ Lösung der Probleme alter, pflegebedürftiger Menschen „durch den Staat“ eine Illusion“, so Kolland. Dafür sind weder die Finanzmittel noch das Personal vorhanden, noch erscheint es humanitär wünschenswert. „Die Antwort muss heißen: Zusammenspiel, Kooperation, Arbeitsteilung zwischen dem Staat, sozialen Dienstleistungen und Unternehmen, den Angehörigen und den alten Menschen selbst,“ ist der Altersexperte überzeugt.