Gewaltschutz als gesellschaftliche Herausforderung

5. Jänner 2018

Gewalt geschieht in allen Lebenslagen und -bereichen: im sozialen Umfeld, auf dem Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum, in Pflegeheimen, Schulen, Gefängnissen. Die meisten Gewaltopfer sind weiblich; eine von fünf Frauen erfährt in ihrem Leben Gewalt, sehr oft sehr nachhaltig.

Die Leidtragenden kommen aus allen sozialen Schichten. Besonders betroffen sind vor allem ältere, pflegebedürftige, auf der Flucht befindliche und in Armut lebende Frauen sowie solche mit körperlichen und kognitiven Einschränkungen. Von neueren Gewalt-Ausprägungen sind auch junge Frauen betroffen.

Gesundheitssystem und Polizei leisten zumeist Erste Hilfe und fungieren als helfende wesentliche Unterbrecher der Gewaltspirale. Den Gerichten kommt im Zusammenspiel mit der Polizei - auch 20 Jahre nach Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes - eine besondere Funktion und Aufgabe zu. Aus der Praxis besehen dürfen das Gesetz und die damit entfaltete Wirkung durchaus als gelungenes, modernes und effektives Beispiel bezeichnet werden. Betretungsverbot, Wegweisung und einstweilige Verfügung haben nach Gewaltmeldungen viel an Folgegewalt verhindert. Dennoch ist damit nicht der Weisheit letzter Schluss erreicht.

Viele Frauen leben in einer Subkultur ständiger Gewalt

Bedauerlicherweise gibt es zum gesamten Bereich der Gewalt in Österreich zu wenig Forschung. "Gewalt gegen Frauen ist die größte Ungerechtigkeit (in einem modernen Staatswesen), die mehr Aufmerksamkeit verdient", schreibt Sora-Chef Günther Ogris im Sammelband der Volksanwaltschaft "Eine von fünf". Diese Aufmerksamkeit spiegelt sich in vielen Ländern in einer soliden Erforschung des Problems, in einer regelmäßigen Berichtslegung bezüglich Opferzahlen und Täterlagen wider. Österreich bezieht ein einigermaßen brauchbares Datenmaterial nur aus einer gemeinsamen europäischen Untersuchung und Ergebnissen der Fundamantal Rights Agency. Viele Rand- und Nebenthemen werden ausgiebiger untersucht als Gewalt in unserer Gesellschaft, resümiert Ogris. Weil es ohnedies lieber niemand so genau wissen will . . .

Pro Jahr erleiden sieben Prozent der Frauen in Europa körperliche Gewalt, das sind etwa 13 Millionen. In Österreich sind drei Prozent der Frauen betroffen, also 110.000 Frauen jedes Jahr. Sie werden gestoßen, mit der Hand oder Faust geschlagen, mit einem harten Gegenstand beworfen, gepackt, an den Haaren gezogen, stranguliert, mit einem Messer verletzt, es werden ihnen Verbrennungen zugefügt. 2013 wurden im Bereich aller Straftaten gegen Leib und Leben etwa 7000 Mal Verurteilungen ausgesprochen. 60.000 Frauen machen jährlich in Österreich Erfahrungen mit sexueller Gewalt. Viele Frauen leben in einer Subkultur beziehungsweise in einem Klima der ständigen körperlichen, sexuellen und psychischen Gewalt. Insgesamt gibt es eine hohe Diskrepanz zwischen Prävalenz, Anzeigen und Verurteilungen.

Das Wissensdefizit wird durch den Umstand verstärkt, dass sich die Gesellschaft mit neuen Ausprägungen von Gewalt konfrontiert sieht. Die Ausrede, dass der Umgang mit neuen Medien erst erlernt werden müsse und dass Cyber Crime und Hate Crime als "Übergangsphänomene" qualifiziert werden könnten, kommt meist aus einer Ecke der mit der Lösungssuche Überforderten oder Scheintoleranten.

So wie es niemand tolerieren würde, dass eine Journalistin oder Politikerin auf der Straße oder in einem Geschäft bedroht wird, so darf nicht toleriert werden, dass weiblichen Aktivistinnen via Netz und über Plattformen dynamisiert Vergewaltigungen gewünscht werden. Alle Formen von Gewalt, auch und besonders Hate Crime und Cyber Crime, sind deutlich als Kriminalitätsformen zu benennen.

Wenn in Polizei und Justiz mehr Entschlossenheit in der Bekämpfung gefordert wird, steht die Volksanwaltschaft nicht alleine da. Krankenhäuser und Gerichte sehen die Notwendigkeit der verstärkten Anstrengung - auch zur multi-institutionellen Zusammenarbeit. Aufklärung und Appelle reichen dabei nicht aus.

Die Reaktion des traditionellen Überwachens und Verbietens geht jedenfalls ins Leere. Zu bedenken ist, dass strafrechtliche Anpassungen, so auch die jüngsten Reformen, der Gewaltentwicklung immer hinterherhinken. Sollen Maßnahmen erfolgreich sein, bedarf es zur effizienten Bekämpfung des besonderen technischen und soziologischen Wissens und der Verankerung von Maßnahmen, die sogar die Grenze der Grundrechte tangieren.

Seit der Schaffung des Gewaltschutzgesetzes lassen sich Gewaltformen in zwei große Bereiche einteilen: Gewalttaten innerhalb und außerhalb des häuslichen Bereichs. Für Erstere liegt mit dem Gewaltschutzgesetz ein taugliches Reaktionssystem vor, zweiteren Gewaltformen wird traditionell mit dem klassischen Strafrecht begegnet.

Sprachbarrieren bei der Verfolgung von Taten

Für beide Sektoren von Gewalttaten bilden Sprachbarrieren Hindernisse bei der Verfolgung der Taten, weiß Oliver Schreiber als Gerichtsvorsteher und Richterausbildner. Ist die Intimsphäre der Opfer betroffen, so wirkt die Sprachbarriere noch stärker. Dazu kommen Verfolgungshemmnisse wegen Abschiebens ins Ausland. In der spezifischen sozio-emotionellen Stresssituation ist es für nicht juristisch ausgebildete Personen insgesamt schwer, den Überblick über die gesetzlich gesicherten Mittel zur Abwehr zu behalten.

Die Strafgerichte haben heute - anders als in den 70er Jahren - eine breite Maßnahmenpalette zur Verfügung, die sowohl dem Opfer als auch dem Täter zugutekommen kann und soll. Gleichzeitig ist der Fokus verstärkt auf den Täter zu richten.

Mindestens so wesentlich ist Gewalt-Prävention. Das beginnt mit dem Aufwachsen in einer gewaltfreien Kommunikationskultur und dem Erlernen von Konfliktaustragungskompetenzen in einer gleichberechtigten Gesellschaft, was durch keinerlei Kultur- oder Traditionsverweis unterlaufen werden kann.

Neuerscheinung

"Eine von fünf"

Die 224 Seiten umfassende Publikation der Volksanwaltschaft von Andrea Berzlanovich, Gertrude Brinek und Maria Rösslhumer (Hrsg.) befasst sich mit dem Gewaltschutz für Frauen in allen Lebenslagen. Edition Ausblick, Wien - Saarbrücken, 2017. 19,90 Euro.